Das Bett des Prokrustes
Das Bett des Prokrustes ist eine Geschichte, die mit wenigen Bildern die Idee der Übersimplifizierung / Normierung verdeutlicht.
“Eine griechische Sage erzählt die Geschichte des Prokrustes, dem Sohn des Meeresgottes Poseidon, der von Beruf Schmied war und der all jenen, die seinen Weg kreuzten, ein grausames Schicksal bereitete. Er lebte auf dem Berg Aagalos in einer Burg, die an dem Weg nach Athen lag. Aus diesem Grund kamen all jene an ihm vorbei, die auf dieser Fährte reisten. Prokrustes besaß ein Eisenbett, dass der Länge und Breite nach genau auf seinen Körper abgemessen war.
In seiner Burg empfing er Reisende, die über Wasser oder Land zu ihm gelangt waren, stets mit offenen Armen. Die Gastfreundlichkeit endete jedoch, als es Zeit wurde sich zu Bett zu legen. Dann geleitete Prokrustes seine Gäste in sein Eisenbett, wo das Grauen beginnen sollte. Denn sollte der Gast größer als das Bett sein, so hackte er ihm seine Gliedmaßen so zurecht, dass sie ins Bett passten. Und sollte er kleiner sein als das Bett, so würde er den Körper seines Opfers auseinander strecken, bis Gelenke brechen würden. Der Körper des Gastes musste den Maßen des Eisenbetts entsprechen, das war das einzige, was zählte."
Die Metapher "Das Bett des Prokrustes" wird heute verwendet, um eine Praxis zu beschreiben, bei der Menschen gezwungen werden, sich an eine bestimmte Vorstellung oder Norm anzupassen, egal ob es passt oder nicht. Es geht darum, Zwangskonformität und Standardisierung zu erzwingen und die Vielfalt von Meinungen und Perspektiven zu unterdrücken.
Das Phänomen trifft man an vielen Stellen wieder und die Anwendung auf gesellschaftliche Normen, in die die/der Einzelne gezwängt wird, (und dabei schon mal das eine oder andere Bein verliert), ist hier explizit nicht Teil des Artikels.
In der IT findet man das Bett des Prokrustes häufig in der Projektplanung wieder, beim Ersinnen von Lösungen auf konkrete Problemstellungen, aber auch bei der Analyse von Daten.
Konkret kann das so sein, dass in der Projektplanung bewusst Teilprobleme nicht benannt werden, mehr und qualifiziertere Teammitglieder versprochen werden, als man insgeheim bereit ist, abzugeben, nur um Budgetschranken nicht zu reißen. Am Ende ist so ein Projekt dann nicht mit Erfolg, d.h. in Time, Budget und Qualität, durchführbar.
Bei technischen Aspekten werden Regeln aufgestellt, die das Produkt entscheidend verschlechtern (als Beispiel gab es einmal den Fall, wo keine Zwischentabellen erlaubt worden sind, mit dem Ergebnis von Abfragen über tausende Zeilen Länge, die überdies für verschiedene Schnittstellen vervielfältigt werden mussten, was Wartung und Weiterentwicklung mehr als nur torpedierte).
In der Datenanalyse werden häufig “Ausreißer”, Extremwerte entfernt und dann damit Modelle erstellt, aber kann man die Welt ohne diese Extremwerte abbilden? Ist es korrekt Karl- und Theo Albrecht zu entfernen, wenn wir die Einkommen des Unternehmens Aldi analysieren?
Wann immer wir gezwungen sind, die Realität zu verneinen, ist Tragik die Folge.
Das Projekt scheitert, oder wird nur unter Crunch Time auf (sozialen) Kosten der Mitarbeiter gestemmt, der Kunde verloren, da nicht in Zeit geliefert wird, oder in roten Zahlen geliefert, weil die Kalkulationsgrundlage schon von vornherein über-optimistischen Annahmen entsprach.
Die Anwendung wird nicht genutzt, schnell ersetzt oder ist ungeahnt teurer als erwartet, weil jede Erweiterung ein Kraftakt ist, oder die Performance nicht stimmt und das Gefühl beim Benutzer zwischen Zorn, Verzweiflung und Trauer schwankt und Sadismus bei den Entwicklern vermutet wird.
Bei Predictive Analysis hat man die Ausreißer entfernt, weil man eine Gaußkurve vermutet hat und die Datenpunkte so schlecht in das Schema passen. Nur ist es leider selten so, dass die Realität sich dem Modell anpasst und der erste schwarze Schwan bringt dann unschöne Überraschungen mit sich. Entfernen wir spaßenshalber 5 Menschen aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, weil diese unser Modell über die Entwicklung der Menschheit so verzerren:
- (Indira) Gandhi
- Mandela
- Turing
- Curie
- Stalin
Muss ich die Absurdität der Annahme, dass Ausreißer gefahrlos ignoriert werden können weiter erläutern? (reductio ad absurdum)
Albert Einstein sagte
”Man sollte alles so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher”
Und so ist die Heilung hier,
- Mut, Verhandeln und Transparenz beim Projektmanagement,
- die Regeln den epistemischen Ergebnissen der Software Entwicklung anzupassen und
- anzuerkennen, dass nicht durch jede Punktwolke eine Glockenkurve oder Gerade gelegt werden sollte
Die Idee, dass erfolgreiche IT Produkte von MINT Fähigkeiten allein abhängen, ist selbst ein Prokrustesbett.
Wer sich auf eine irre Reise durch Mathematik, Statistik, Literatur, Sprache und Geschichte machen möchte, dem möchte ich wärmstens Nassim Taleb und von ihm besonders das Buch "Antifragile" empfehlen.
Eine Warnung vorweg: Es könnte bei der Lektüre herauskommen, dass man "um klug zu sein, erkennen muss, dass man es nicht ist."
Talebsche Unschärferelation: "Klug sein, aber glaube es nicht zu sein oder glauben klug zu sein, aber man ist es nicht."
